Was sind die aufgegleisten Projekte und Vorlagen schon wert, wenn einen das Schicksal dermassen abrupt aus dem Alltag reisst? Bundesbern erlebt einen denkwürdigen Tag.
David Biner, Bern
Es gibt Ereignisse, nach denen das Leben ein anderes ist als zuvor. Simonetta Sommaruga und ihr Ehemann, der Schriftsteller Lukas Hartmann, hatten so eines jüngst erleben müssen. Hartmann erlitt einen Schlaganfall und musste im Spital gepflegt werden. Die Bundesrätin nahm sich vergangene Woche eine kurze Auszeit, um bei ihrem Mann sein zu können. Aus der Auszeit wurde ein Abgang. Am Mittwoch hat Sommaruga bekanntgegeben, dass sie per Ende Jahr zurücktritt.
Damit ist sie das zweite Mitglied des Bundesrats, das vor Ende der laufenden Legislatur den Hut nimmt. Im Gegensatz zu Kollege Ueli Maurer, der aus seiner Ankündigung Ende September ein fröhliches Schaulaufen machen konnte, bleibt es Sommaruga verwehrt, ihre eigene Bilanz zu feiern oder die üblichen Floskeln zu verwenden, etwa, dass sie «mit einem weinenden und einem lachenden Auge» die Regierung verlässt.
Immer gerne Bundesrätin
Zu ernst, zu persönlich, zu privat sind die Umstände. Entsprechend schwer dürfte ihr auch den Gang vor die Medien gefallen sein. Was sind schon die eigenen Erfolge und Niederlagen, die aufgegleisten Projekte und Vorlagen noch wert, wenn einen das Schicksal dermassen abrupt aus dem Alltag reisst? Der Schlaganfall ihres Mannes sei ein einschneidendes Erlebnis gewesen, sagte sie. «Es hat mir bewusst gemacht, dass ich nach 12 Jahren die Schwerpunkte in meinem Leben anders setzen will.»
Die Präsidentin der Bundesversammlung @kaelinirene hat heute das Rücktrittsschreiben von BR @s_sommaruga erhalten und dankt ihr herzlich für ihre Arbeit. Die Ersatzwahl findet in der Wintersession, am 7. Dezember 2022 statt. pic.twitter.com/vAzwcsOTNX
— Parl CH (@ParlCH) November 2, 2022
Das Amt habe bei ihr immer oberste Priorität gehabt. Und sie sei immer gerne Bundesrätin gewesen. Auch wenn der politische Gegenwind und vor allem der Ton in den letzten Jahren rauer, der Druck grösser geworden ist. Die Corona-Pandemie hob sie mehrfach hervor. Während den ersten beiden Wellen war sie Bundespräsidentin. Ihre Einblicke in die politische Schaltzentrale der Jahrhundertkrise machten deutlich: Der Bundesrat regierte während Corona über weite Strecken nach dem Prinzip Hoffnung. Ähnliches könnte man bisweilen auch vom Energiedossier behaupten.
Zurecht nannte sie die zahlreichen Massnahmen, die sie verfügt hatte, damit die Schweiz zumindest durch den anstehenden Winter kommt. Dass die Energiepolitik, die sie zuletzt als zuständige Departementsvorsteherin verantwortet hat, in weiten Teilen gescheitert ist, diese Einschätzung teilt sie aber nicht. Man habe die Fehler – etwa die zu gross gewordene Abhängigkeit von Stromimporten aus dem Ausland – erkannt und die entsprechenden Korrekturen eingeleitet.
Das Parlament habe in der Herbstsession die nötigen Schritte zur Versorgungssicherheit eingeleitet. Und auch den sogenannten «runden Tisch», wo sie sich mit den Rekurs-wütigen Umweltverbänden über bestimmte Wasserkraftprojekte einigen konnte, verbucht sie als Erfolg. Sommaruga legte immer Wert darauf, alle Akteure mit im Boot zu haben. Dossier-bestimmende Parlamentarier lud sie nicht selten zu sich ins Büro ein zum Kaffee.
Cassis sagt Rumänien-Reise ab
Sommarugas Rücktrittsankündigung – das hat sie mit jener von Maurer gemein – kam völlig überraschend. Schon lange Zeit vor dem privaten Schicksalsschlag wurde darüber spekuliert, ob es die 62-Jährige ihrem Kollegen Maurer, den sie persönlich mag, gleichmachen würde. Und nach den wegweisenden Entscheiden des Parlaments im Energiedossier sah es zunächst danach aus, dass sie mindestens bis Ende der Legislatur im Amt bleiben wird. Für wann genau ihr Rücktritt eigentlich geplant gewesen wäre, diese Frage liess sie unbeantwortet.
SP-Fraktionschef Roger Nordmann sagte an anderer Stelle, dass man sich noch vor kurzem mit Sommaruga Gedanken gemacht habe über die Strategie für die im kommenden Sommer anstehende Abstimmung über die Gletscher-Initiative. Die Partei wie auch ihre Fraktion hat Sommaruga ebenfalls auf dem falschen Fuss erwischt. Den Bundesrat offensichtlich auch. Bundespräsident Ignazio Cassis annullierte am Mittwochnachmittag kurzerhand eine Reise nach Rumänien.
Die SP ihrerseits sucht nun eine Nachfolgerin. Die Parteileitung schlägt ihrer Fraktion vor, ein Ticket mit zwei Frauen zu nominieren. Am 25. November werden die Kandidatinnen nominiert. Sommaruga selbst äusserte keine Präferenzen. Ihre Nachfolge sei Sache des Parlaments.
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